Biografisches zu erzählen kann viele Formen haben.
Zum einen kann man auf die Loriot-Methode zurückgreifen, die er in seinem Film „Pappa ante portas“ einsetzt. Mit einem Satz wie „Mein Name ist Lohse, ich kaufe hier ein!“ ist alles gesagt: Herkunft, Weltsicht, biografische Situation.
Übertragen auf die heutige Zeit nennt man in der Anwendung dieses Verfahrens kurz und knapp den eigenen Namen und die mit Punkt abgetrennte Endung „de“. So können sich Interessierte bei freier Zeiteinteilung ein virtuelles Bild von der betreffenden Person machen.
Auf der anderen Seite beginnt die Biografie weit vor dem eigentlichen Eintritt ins Leben und reicht im besten Falle ebenso darüber hinaus. An diese Form der Erzählung möchte ich anknüpfen.
Seit vielen Generationen ist meine Familie in Leipzig ansässig. Ein wichtiger Grund dafür war die kulturelle Vielfalt und Lebendigkeit dieser Stadt. In dem gleichen Maße, wie diese während der faschistischen Diktatur mehr und mehr zum Erliegen kam, endeten auch die glücklichen Jahre meiner Vorfahren. Ihre Wege führten von Leipzig nach Theresienstadt, Leitmeritz und Auschwitz. Nach Kriegsende trennten sich die Wege derer, die den Holocaust überlebten. Nur mein Urgroßvater, den die Treue und der damit verbundene Schutz seiner christlich geprägten Frau, die in der Rassenklassifikation der Nazis als „arisch“ eingestuft wurde, vor der „Endlösung“ bewahrte, kehrte in seine Heimatstadt zurück. Hier machte er sich verdient um die Wiederbelebung der israelitischen Kultusgemeinde, die heute wieder ein wichtiger Faktor kultureller Vielfalt in Leipzig ist.
Im April 1965 erblickte ich in Leipzig das Licht der Welt, mein Urgroßvater starb wenige Wochen später. So kreuzten sich unsere Lebenslinien, verschränkten sich unsere Biografien.
Ich verlebte eine für DDR-Verhältnisse typische Kindheit. Kultur war nun Klassenkampf, Malerei, Musik, Architektur und Literatur stellten sich in den „Dienst der guten Sache“. Mein Aufwachsen war geprägt durch den Einfluss sozialistischer Agitation und Propaganda, ein Entrinnen aus dieser Maschinerie für ein Kind unmöglich. Und so wurde ich mit Begeisterung Jungpionier, Wandzeitungsredakteur und Agitator, mit etwas weniger Elan Thälmannpionier und schließlich opponent. In die FDJ wurde ich wegen zunehmender nicht staatskonformer Äußerungen sowie wachsendem Engagement in kirchlichem Rahmen nicht aufgenommen; eine drakonisch gemeinte Form der Strafe, über die ich heute noch herzhaft lachen muss.
Meine Eltern, die als Wissenschaftler in der Forschung tätig waren, verstanden Bildung stets auch als kulturelle und religiöse Bildung, aus der politisches Interesse und Engagement erwächst. Schon frühzeitig schickten sie mich zum Klavierunterricht und zur Christenlehre. Auf diesem Fundament konnte ich aufbauen, als ich mir später im Bereich der Kultur Freiräume erschloss, die mir im Zugriffsbereich des Staates verwehrt blieben. Als Nicht-FDJ-Mitglied aus akademischem Elternhaus, welches sich stets Vereinnahmungsversuchen durch die Staatspartei entzog, wurde mir trotz guter Noten der Zugang zum Abitur und damit zum Studium verwehrt. Und so danke ich es paradoxerweise gerade der SED, dass ich nach Beendigung der zehnklassigen Polytechnischen Oberschule ein Handwerk erlernte und dadurch eine „Bodenhaftung“ erwarb, die bis heute anhält.
Der Übergang zum Erwachsenenleben war bei mir gekennzeichnet durch zunehmendes Engagement sowohl in politischen Kreisen der evangelischen Kirche als auch durch erste Versuche, mich künstlerisch auszudrücken. Mit Gleichgesinnten verschrieb ich mich anfangs dem Lied, später dem Chanson und dem Liedtheater. Unterstützung fand ich in dieser Zeit durch Dozenten des Leipziger Kabinetts für Kulturarbeit, deren hervorragender Unterricht vor allem in den Bereichen Musiktheorie, Tonsatz, Arrangement und Bühnenpräsentation schon bald positive Folgen zeigte: zunächst in der Einstufung unseres Musiktheaters „Kaktus“ als „Kollektiv des künstlerischen Volksschaffens“ mit dem Prädikat „ausgezeichnet“, etwas darauf in meiner amtlich bestätigten Qualifizierung als Mentor für den musikalischen Nachwuchs dieser Stadt.
Proportional zur wachsenden Popularität unseres Liedtheaters stieg natürlich auch das Interesse der Staatssicherheit. Bekannt für unsere zwar verschlüsselten, für den gelernten DDR-Bürger dennoch mühelos dechiffrierbaren Texte vor allem über Umweltschutz und politische Unterdrückung waren die immer gleichen zwei Mitarbeiter der sozialistischen Gesinnungsbehörde unsere treuen Begleiter quer durch die Republik. Dabei zeigte sich, dass die Mielke-Behörde nicht immer qualifiziertes Spitzelpersonal einsetzte. Von uns wegen ihres im Voraus berechenbaren Auftauchens bei unseren Konzerten befragt, zeigte sich die skurrile Seite des Gefährlichen. Beide gaben unisono als Motiv ihres Interesses an, sie wären Kleingärtner und interessierten sich für den Umweltschutz.
Gegen Ende der achtziger Jahre engagierte ich mich zunehmend in der kirchlichen Umweltbewegung und war als Wehrdienstverweigerer in entsprechenden Gruppen Leipziger Kirchgemeinden aktiv. Daher ist es geradezu folgerichtig, dass ich mich von Anfang an in die Leipziger Montagsdemonstrationen einreihte, Petitionen für inhaftierte Leipziger Jugendliche unterschrieb und vielmals öffentlich die Erklärung einer Reihe bekannter Künstler gegen das „Weiter so!“ der SED verlas. Für mich ist das Gelingen der von Leipzig ausgehenden friedlichen Revolution im Jahr 1989 mit einer nachhaltigen persönlichen Erfahrung verknüpft. Im September dieses Jahres erhielt ich einen Befehl zum Einfinden in das Wehrkreiskommando. Als ich dort erneut meinen festen Willen bekundete, der Einberufung in die „Nationale Volksarmee“ nicht Folge zu leisten, entließ mich der zuständige Offizier wutschnaubend mit den Worten „Sie hören noch von uns!“. Wenige Wochen später fiel die Berliner Mauer, wurden diese Worte belanglos. Das Ende der SED-Diktatur eröffnete mir ein neues Leben, das auf dem bisherigen aufbaute.
Als ich im Jahr 1994 auf Grund meiner langjährigen Erfahrungen im kulturellen Bereich ein Angebot der sächsischen Landeskirche erhielt, als Referent für musisch-kulturelle Bildung zu arbeiten, erschien es an der Zeit, ein neues Kapitel meiner Biografie zu beginnen. Ich wurde wegen nachweisbarer politischer Verfolgung in der DDR ohne Abitur zu einem speziellen Hochschulzugangsverfahren zugelassen. Ich schrieb mich im Oktober 1995, mit nunmehr dreißig Jahren in den Fächern Musikwissenschaft, Soziologie und Theologie ein. Neben dem Beruf nutzte ich jede freie Minute für das Direktstudium, welches ich mit Bestnoten zur Jahrtausendwende abschloss. Fünf Jahre später komplettierte ich mein Studium mit einer Promotion über das Thema „Musik als Kulturfaktor“.
Eine Biografie ist unvollständig, wenn sie nur die Arbeit erwähnt. Familie ist mir wichtig, ist mein Mittelpunkt und Kraftquell. Ich bin verheiratet und teile mein Leben mit meiner Frau und drei Kindern, von denen das älteste bereits seine eigenen Wege geht. Ich bin stolz darauf, Freunde zu haben, mit denen mich gemeinsame Interessen seit vielen Jahren verbinden. Ohne den starken Rückhalt meiner Familie, das Rückzugsgebiet des Privaten und das Angenommensein von Freunden wäre es mir nicht möglich, die stets wachsende Vielfalt und Verantwortung beruflicher Tätigkeit und ehrenamtlicher Arbeit zu schultern.
Drei Schwerpunkte meiner Tätigkeiten will ich an dieser Stelle kurz herausgreifen.
Da ist zum einen die wissenschaftliche Arbeit. Ich bin in den Disziplinen Musik- und Kulturwissenschaft sowie Religion und Soziologie sowohl als international gefragter Referent und Gutachter als auch auf publizistischem Feld tätig. Hier betreue ich wissenschaftliche Arbeiten, betätige mich als Lektor und Herausgeber und zeichne für eine Reihe eigener Veröffentlichungen verantwortlich.
Die zweite Säule meiner Arbeit ist die anleitende Tätigkeit in den Bereichen Kulturarbeit und Interkulturelle Arbeit in ihrer ganzen Breite und Vielfalt. Hierzu gehören Projekte der kulturellen Jugendbildung, der Weiterbildung von Fachkräften und der politischen Bildung. Im Rahmen dieser Arbeit erstelle ich kulturrelevante Konzeptionen und Richtlinien, kümmere mich um Finanzierung, Projektsteuerung und das Berichtswesen sowie um Weitergabe meines Wissens und meiner Erfahrung in Seminaren und Fachtagungen.
Ich realisiere und berate interkulturelle Projekte auf allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis. Als Coach für interkulturelle Begegnungsvorhaben unterstütze ich die Arbeit des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Seit vielen Jahren bin ich Vorsitzender des Bundesverbandes Kulturarbeit in der evangelischen Jugend. In dieser ehrenamtlich ausgeübten Funktion engagiere ich mich in Gremien wie dem Deutschen Kulturrat, dem Deutschen Musikrat und der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung.
Als dritter Schwerpunkt meiner Tätigkeitspalette wäre die kulturpraktische Arbeit zu nennen. Diese reicht von der Anleitung und Betreuung im Bereich des Laienmusizierens über Seminare zum Urheberrecht und die Durchführung von Schulprojekten in Kooperation mit dem sächsischen Staatsministerium für Kultus bis zur Organisation von Großveranstaltungen in Sachsen und weit darüber hinaus.
Was macht man, wenn man nun immer noch über freie Zeit verfügt?
In meinem Fall ist die Antwort eindeutig: Musik.
Auf die prinzipiell mögliche Anschlussfrage, welche Musik denn dies nun wäre, möchte ich mit dem Verweis auf die eingangs erläutere Loriot-Methode antworten: siehe Name plus Punkt und „de“.